Leseprobe
„Gewaltfreie Kommunikation“ von Marshall Rosenberg
Aus dem Amerikanischen von Ingrid Holler
Erschienen am 14.08.2001 – 240 Seiten, Kartoniert ISBN: 978-3-87387-454-1
Der Anfang in Auszügen:
Worte sind Fenster (oder sie sind Mauern)
Ich fühle mich so verurteilt von deinen Worten,
Ich fühle mich so abgewertet und weggeschickt,
Bevor ich gehe, muss ich noch wissen,
Hast du das wirklich so gemeint?
Bevor ich meine Selbstverteidigung errichte,
Bevor ich aus Verletzung und Angst heraus spreche,
Bevor ich diese Mauer aus Worten baue,
Sage mir, habe ich richtig gehört?
Worte sind Fenster oder sie sind Mauern,
Sie verurteilen uns oder sprechen uns frei.
Wenn ich spreche und wenn ich zuhöre,
Licht der Liebe, scheine durch mich hindurch.
Es gibt Dinge, die ich sagen muss,
Dinge, die mir so viel bedeuten.
Wenn sie durch meine Worte nicht klar werden,
Hilfst du mir, mich freizusprechen?
Wenn es so schien, als würde ich dich niedermachen,
Wenn du den Eindruck hattest, du wärst mir egal,
Versuch‘ doch bitte, durch meine Worte hindurch zu hören
Bis zu den Gefühlen, die wir gemeinsam haben.
Ruth Bebermeyer
Von Herzen geben … wie es dazu kam.
Von Herzen geben: Das Herz der Gewaltfreien Kommunikation
„Was ich in meinem Leben will, ist Einfühlsamkeit, ein Fluss zwischen mir und anderen, der auf gegenseitigem Geben von Herzen beruht.“ – Marshall Rosenberg
Einleitung
Weil ich glaube, dass die Freude am einfühlsamen Geben und Nehmen unserem natürlichen Wesen entspricht, beschäftige ich mich schon viele Jahre meines Lebens mit zwei Fragen: Was geschieht genau, wenn wir die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur verlieren und uns schließlich gewalttätig und ausbeuterisch verhalten? Und umgekehrt, was macht es manchen Menschen möglich, selbst unter den schwierigsten Bedingungen mit ihrem einfühlsamen Wesen in Kontakt zu bleiben?
Ich begann, mich mit diesen Fragen in meiner Kindheit, während des Sommers 1943 zu beschäftigen, als unsere Familie nach Detroit, Michigan, umzog. In der zweiten Woche nach unserer Ankunft brach wegen eines Zwischenfalls in einem Park ein Rassenkrieg aus. Mehr als vierzig Menschen wurden in den nächsten Tagen getötet. Unser Viertel lag im Zentrum der Gewalt, und wir sperrten uns drei Tage lang zu Hause ein.
…
Seit jenem Sommer 1943 widme ich mich der Erforschung der beiden besagten Fragen. Was gibt uns die Kraft, die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur selbst unter schwierigsten Bedingungen aufrecht zu erhalten? Ich denke an Menschen wie Elly Hillesum, die sich ihr Einfühlungsvermögen sogar erhielt, als sie den unbeschreiblichen Bedingungen eines deutschen Konzentrationslagers ausgesetzt war. So schrieb sie damals in ihr Tagebuch:
„Mir kann man nicht so leicht angst machen. Nicht weil ich tapfer wäre, sondern weil ich weiß, dass ich es mit menschlichen Wesen zu tun habe und dass ich so intensiv wie nur möglich versuchen muss, alles was ein anderer jemals tut, zu verstehen. Und darum ging es genau heute morgen: Es war nicht wichtig, dass ich von einem missmutigen Gestapooffizier angeschrieen wurde, sondern dass ich darüber keine Entrüstung empfand und statt dessen echtes Mitgefühl mit ihm hatte. Ich hätte ihn gerne gefragt: ‚Hatten Sie eine sehr unglückliche Kindheit, hat Ihre Freundin Sie im Stich gelassen?‘ Ja, er sah mitgenommen und angespannt aus, finster und dünnhäutig. Am liebsten hätte ich ihn gleich in psychologische Behandlung genommen, denn ich weiß, dass solche bedauernswerten jungen Männer gefährlich werden, wenn man sie auf die Menschheit loslässt.“ – Elly Hillesum: A Memoir.
Von der Wirkung der GFK
Wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren können
Wir sehen Beziehungen in einem neuen Licht, wenn wir mit Hilfe der GFK unsere eigenen, zugrunde liegenden Bedürfnisse und die der anderen wahrnehmen.
Die GFK gründet sich auf sprachliche und kommunikative Fähigkeiten, die unsere Möglichkeiten erweitert, selbst unter herausfordernden Umständen menschlich zu bleiben. Sie beinhaltet nichts Neues; alles was in die GFK integriert wurde, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Es geht also darum, uns an etwas zu erinnern, das wir bereits kennen – nämlich daran, wie unsere zwischenmenschliche Kommunikation ursprünglich gedacht war. Und es geht auch darum, uns gegenseitig bei einer Lebensweise zu helfen, die dieses Wissen wieder lebendig macht.
…
Da die GFK unsere alten Muster von Verteidigung, Rückzug oder Angriff angesichts von Urteilen und Kritik umwandelt, kommen wir immer mehr dahin, uns selbst und andere sowie unsere innere Einstellung und die Dynamik unserer Beziehungen in einem neuen Licht zu sehen. Widerstand, Abwehr und gewalttätige Reaktionen werden auf ein Minimum reduziert. Wir entdecken das Potential unseres Einfühlungsvermögens, wenn wir uns auf die Klärung von Beobachtung, Gefühl und Bedürfnis konzentrieren, statt zu diagnostizieren und zu beurteilen. Dadurch, dass die GFK die Betonung auf intensives Zuhören nach innen und nach außen legt, fördert sie Wertschätzung, Aufmerksamkeit und Einfühlung und erzeugt auf beiden Seiten den Wunsch, von Herzen zu geben.
…
Ich stelle fest, dass meine kulturellen Wurzeln meine Aufmerksamkeit in eine Richtung lenken, wo ich sehr wahrscheinlich nicht das bekomme, was ich haben möchte. Und so habe ich die GFK als eine Methode entwickelt, die meine Wahrnehmung trainiert, damit das Licht der Bewusstheit in eine Richtung scheint, die das Potential hat, mir das zu geben, wonach ich suche. Was ich in meinem Leben möchte ist Einfühlsamkeit, einen Fluss zwischen mir und anderen, der auf gegenseitigem Geben von Herzen beruht.
In dem nun folgenden Gedicht meiner Freundin Ruth Bebermeyer kommt die Art der Einfühlung zum Ausdruck, die ich meine, wenn ich sage „von Herzen geben“:
Von Herzen geben
(Original: Given to)
Ich fühle mich ungemein beschenkt,
wenn du etwas von mir annimmst –
wenn du an der Freude teilhast, die in mir ist, sobald ich dich beschenke.
Und du weißt, ich gebe nicht in der Absicht,
dich in meine Schuld zu bringen,
sondern weil ich die Zuneigung leben möchte,
die ich für dich empfinde.
Annehmen mit Würde
Ist vielleicht das größte Geschenk.
Unmöglich kann ich die beiden Seiten voneinander trennen.
Wenn du mich beschenkst,
schenke ich dir mein Annehmen.
Wenn du von mir nimmst, fühle ich mich sehr beschenkt.
(Text von Ruth Bebermeyer
Vertont von Marshall Rosenberg)
Um die GFK anzuwenden, müssen die Leute, mit denen wir kommunizieren, nicht in der GFK ausgebildet sein. Sie müssen nicht mal die Absicht haben, sich im Kontakt mit uns einfühlsam zu verhalten. Wenn wir selbst mit den Prinzipien der GFK im Einklang bleiben – einzig und allein um einfühlend zu geben und zu nehmen – und alles tun, was wir können, um anderen zu vermitteln, dass dies unser einziges Motiv ist, dann werden sie mit uns in den Prozess hineingehen, und wir sind am Ende in der Lage, einfühlsam miteinander zu kommunizieren. Ich sage nicht, dass es immer schnell geht. Aber ich bleibe dabei, dass sich das Einfühlungsvermögen unvermeidlich entfaltet, wenn wir den Prinzipien der GFK treu bleiben.
Wie aus gewohnheitsmäßigen, automatischen Reaktionen bewusste Antworten werden.
Klappentext:
Wir betrachten unsere Art zu sprechen vielleicht nicht als „gewalttätig“, dennoch führen unsere Worte oft zu Verletzung und Leid – bei uns selbst oder bei anderen. Die Gewaltfreie Kommunikation hilft uns bei der Umgestaltung unseres sprachlichen Ausdrucks und unserer Art zuzuhören. Aus gewohnheitsmäßigen, automatischen Reaktionen werden bewußte Antworten. Wir werden angeregt, uns ehrlich und klar auszudrücken und gleichzeitig anderen Menschen unsere respektvolle Aufmerksamkeit zu schenken.
Wenn wir die Gewaltfreie Kommunikation in unseren Interaktionen anwenden, ob mit uns selbst, mit einem anderen Menschen oder in einer Gruppe, kommen wir an eine Tür, die auf allen Ebenen der Kommunikation, in allen Altersklassen und in den unterschiedlichsten Situationen im Beruf, im Privatleben und auf dem politischen Parkett erfolgreich geöffnet werden kann.
Die Gewaltfreie Kommunikation ist die verlorene Sprache der Menschheit, die Sprache eines Volkes, das rücksichtsvoll miteinander umgeht und die Sehnsucht hat, in Balance mit sich selbst und anderen zu leben. Mit Geschichten, Erlebnissen und beispielhaften Gesprächen macht Marshall Rosenberg in seinem Buch alltägliche Lösungen für komplexe Kommunikationsprobleme anschaulich.
Von der Beobachtung bis zur Bitte. Über Empathie und Haltung uns – und anderen gegenüber.
Aus dem Inhalt:
- Von Herzen geben: Das Herz der gewaltfreien Kommunikation
- Wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren können
- Wie wir die gewaltfreie Kommunikation in unserem Leben und in unserer Umgebung anwenden können
- Wie Kommunikation Einfühlungsvermögen blockiert
- Moralische Urteile
- Vergleiche anstellen
- Verantwortung leugnen
- Andere Formen lebensentfremdender Kommunikation
- Beobachten ohne zu bewerten
- Die höchste Form menschlicher Intelligenz
- Gefühle wahrnehmen und ausdrücken
- Unterdrückte Gefühle kommen teuer zu stehen
- Gefühle im Gegensatz zu „Nicht“-Gefühlen
- Wie wir uns einen Gefühlswortschatz aufbauen
- Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen
- Eine negative Äußerung und vier Reaktionsmöglichkeiten
- Die Bedürfnisse an den Wurzeln unserer Gefühle
- Der Schmerz, den wir fühlen, wenn wir unsere Bedürfnisse ausdrücken, im Gegensatz zu dem Schmerz, den wir beim Unterdrücken unserer Bedürfnisse fühlen
- Von emotionaler Sklaverei zu emotionaler Befreiung
- Um das bitten, was unser Leben bereichert
- Positive Handlungssprache benutzen
- Bitten bewußt formulieren
- Um Wiedergabe bitten
- Um Offenheit bitten
- Bitten kontra Forderungen
- Mit welchem Ziel äußern wir eine Bitte?
- Empathisch aufnehmen
- Präsenz: Tu nicht irgend etwas, sei einfach da
- Auf Gefühle und Bedürfnisse hören
- Paraphrasieren – Mit eigenen Worten wiedergeben
- Wenn Schmerz unsere Empathiefähigkeit blockiert
- Die Macht der Empathie
- Empathie, die heilt
- Empathie und die Fähigkeit, verletzlich zu sein
- Wie Empathie Gefahrensituationen entschärft
- Mit Empathie ein leerlaufendes Gespräch wiederbeleben
- Ärger vollständig ausdrücken
- Den Auslöser von der Ursache unterscheiden
- Ärger hat immer einen lebensbejahenden Kern
- Auslöser kontra Ursache: Praktische Auswirkungen
- Vier Schritte um Ärger auszudrücken
- Die beschützende Anwendung von Macht
- Wenn die Anwendung von Macht unumgänglich ist
- Die Einstellung hinter der Machtanwendung
- Verschiedene Arten bestrafender Macht
- Die beschützende Ausübung von Macht in Schulen
- Uns selbst befreien und andere unterstützen
- Sich von alten Mustern befreien
- Innere Konflikte lösen
- Traumtötersprache
- Diagnosen durch gewaltfreie Kommunikation ersetzen
- Wertschätzung und Anerkennung ausdrücken in gewaltfreier Kommunikation
- Die Absicht hinter der Anerkennung
- Der Hunger nach Anerkennung
Weg von: „Was halten die anderen für richtig in dem, was ich sage und tue?“
Leseprobe
Unser Repertoire an Schimpfwörtern ist oft umfangreicher als der Wortschatz, mit dem wir unseren Gefühlszustand klar beschreiben können. Ich habe einundzwanzig Jahre lang verschiedene amerikanische Bildungsstätten durchlaufen und kann mich nicht daran erinnern, daß mich einmal jemand gefragt hätte, wie ich mich fühle. Gefühle wurden einfach nicht als wichtig angesehen. Was sehr geschätzt wurde, war „die richtige Art zu denken“ – nach Definition derer, die Stellungen von Rang und Autorität innehatten. Wir werden eher dazu trainiert, „außenorientiert“ zu leben, als mit uns selbst in Kontakt zu sein. Wir lernen „in unserem Kopf“ zu sein und uns zu fragen: „Was halten die anderen für richtig in dem, was ich sage und tue?“
Eine Auseinandersetzung, die ich im Alter von etwa neun Jahren mit einer Lehrerin hatte, macht deutlich, wie die Entfremdung von unseren Gefühlen ihren Anfang nehmen kann. Eines Tages versteckte ich mich nach der Schule im Klassenraum, weil draußen ein paar Jungen warteten, um mich zu verprügeln. Eine Lehrerin entdeckte mich und sagte mir, ich solle die Schule verlassen. Als ich ihr erklärte, daß ich Angst hätte rauszugehen, verkündete sie: „Große Jungs haben keine Angst.“ Ein paar Jahre später, im Sportunterricht, wurde diese Haltung noch mehr verstärkt. Es war typisch für die Trainer, ihre Sportler einzustufen nach deren Bereitschaft, „alles zu geben“ und immer weiterzuspielen, egal wie weh ihnen gerade etwas tat. Ich lernte diese Lektion so gut, daß ich einmal mit einem gebrochenen, unbehandelten Handgelenk einen Monat lang weiter Baseball spielte.
In einem GFK-Workshop erzählte ein College-Student von einem Mitbewohner, der die Musik so laut aufdrehte, daß er nicht schlafen konnte. Auf die Frage nach seinen Gefühlen in der geschilderten Situation antwortete der Student: „Ich habe das Gefühl, daß es nicht in Ordnung ist, nachts so laut Musik zu hören.“ Ich wies darauf hin, daß, wenn er nach dem Wort fühlen das Wort dass sagt, er eine Meinung äußert, aber nicht seine Gefühle offenlegt. Auf die nochmalige Bitte, seine Gefühle auszudrücken, erwiderte er: „Ich habe das Gefühl, die Leute, die so was machen, haben eine Persönlichkeitsstörung.“ Ich erklärte ihm, daß auch dies eine Meinung statt einer Gefühlsäußerung sei. Er machte eine nachdenkliche Pause und sagte dann vehement: „Ich habe überhaupt keine Gefühle dazu!“
Dieser Student hatte offensichtlich starke Gefühle. Leider wußte er nicht, wie er sich seiner Gefühle bewußt werden, geschweige denn sie in Worte fassen konnte. Diese Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, ist weit verbreitet, besonders bei Anwälten, Ingenieuren, Polizisten, Managern und Leuten, die im Militär Karriere machen – Menschen, deren Fachsprache sie von Gefühlsäußerungen abhält. Familien müssen einen hohen Preis bezahlen, wenn ihre Mitglieder sich keine Gefühle mitteilen können. Die Country- und Western-Sängerin Reba McIntire schrieb einen Song nach dem Tod ihres Vater: „Der tollste Mann, den ich nie kannte“. Damit drückt sie zweifelsohne die Gefühlslage vieler Menschen aus, die nie in der Lage waren, die emotionale Verbindung zu ihrem Vater aufzubauen, die sie gerne gehabt hätten.
Ich höre immer wieder die Feststellung: „Verstehen Sie mich nicht falsch – ich bin mit einem wunderbaren Mann verheiratet – ich weiß nur nie, was er fühlt.“ Eine dieser unzufriedenen Frauen brachte ihren Mann mit zu einem Workshop, wo sie zu ihm sagte: „Ich fühle mich, als wäre ich mit einer Wand verheiratet.“ Daraufhin gab der Mann eine ausgezeichnete Imitation einer Wand zum besten: Er saß da, steif und stumm. Verzweifelt drehte sich die Frau zu mir und rief aus: „Sehen Sie! Genau das passiert die ganze Zeit. Er sitzt da und sagt nichts. So lebt es sich mit einer Wand.“ „Das hört sich für mich so an, als wären Sie einsam und hätten gerne mehr emotionalen Kontakt zu Ihrem Mann“, sagte ich. Als sie zustimmte, versuchte ich ihr aufzuzeigen, daß Äußerungen wie: „Ich fühle mich, als wäre ich mit einer Wand verheiratet“ nicht dazu geeignet sind, ihrem Mann ihre Gefühle und Wünsche nahezubringen. Sie werden sogar höchstwahrscheinlich als Kritik gehört und nicht als Einladung, mit den Gefühlen in Kontakt zu kommen. Des weiteren führen solchen Äußerungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Ein Ehemann hört z.B. die Kritik, daß er sich wie eine Wand verhält; er ist verletzt und entmutigt und reagiert nicht; und so bestätigt sich das Bild seiner Frau von ihm als Wand.